Das Experimentierfeld der Geschichte
Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme Ende der 80er-Jahre war für viele Menschen weltweit die Überlegenheit der Marktwirtschaft offensichtlich. Dennoch haben sich latent oder offen antikapitalistische Ressentiments gehalten, die seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 wieder erheblich an Zustimmung gewonnen haben. Politik, Medien und Intellektuelle sind sich in der Deutung dieser Krise weitgehend einig: Der Markt oder der Kapitalismus habe versagt, wir bräuchten deshalb mehr Staat.
Dieses Buch entstand aus Sorge darüber, dass wir vergessen, was die Basis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes ist. Das Wort »Kapitalismus« weckt bei den meisten Menschen negative Assoziationen. Dies war auch schon vor der Finanzkrise so, aber inzwischen sind Verfechter einer konsequent marktwirtschaftlichen Orientierung immer mehr in die Defensive geraten und werden als »Marktradikale« denunziert.
Es gibt in der modernen Zeit grundsätzlich zwei Möglichkeiten, eine Wirtschaft zu organisieren: Im ersten Fall gibt es kein Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Grund und Boden, sondern nur Staatseigentum. In Planungsbehörden wird festgelegt, was in welcher Menge produziert wird. Im zweiten Fall ist das Privateigentum garantiert und die Unternehmer produzieren im Rahmen einer rechtlichen Ordnung jene Güter, von denen sie glauben, dass die Konsumenten sie brauchen. Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung 6 Preise geben ihnen die Informationen darüber, ob sie mit ihrer Annahme richtiglagen, also ob sie das Richtige in der richtigen Menge produziert haben. Das erste System nennt man Sozialismus, das zweite Marktwirtschaft oder Kapitalismus. Ich verwende beide Begriffe synonym, spreche aber vom »Kapitalismus«, weil sich heute auch Gegner der Marktwirtschaft verbal zu ihr bekennen, in Wahrheit aber Mischsysteme meinen, die sie als »soziale« oder »ökologische« Marktwirtschaft bezeichnen.
Tatsächlich existiert in der Realität keines dieser Systeme – Kapitalismus oder Sozialismus – in Reinkultur. Selbst in sozialistischen Staaten wie der DDR oder sogar in Nordkorea gab oder gibt es neben dem Staats- auch Privateigentum und neben dem alles dominierenden Plan Elemente von Marktwirtschaft, legal oder illegal. Ohne diese Marktelemente hätte die Wirtschaft in diesen Ländern noch schlechter oder gar nicht mehr funktioniert. Zwar gibt es in sozialistischen Staaten dem Namen nach auch »Preise«, doch diese haben eine ganz andere Funktion als in einer Marktwirtschaft. Letztlich haben diese Pseudopreise mehr Ähnlichkeit mit Steuern, wie der Ökonom Zhang Weiying bemerkt.
In den kapitalistischen Ländern existiert neben dem Privat- auch Staatseigentum und der Staat greift regulierend in die Wirtschaft ein oder verteilt durch Steuern die erzielten Erträge um, indem er den Reichen Geld wegnimmt und dies an die Mittelschicht oder die Ärmeren verteilt. Das kann sehr starke Ausmaße annehmen, wie etwa in den 70er- und 80er-Jahren in Schweden. Am Beispiel von Großbritannien werden wir sehen, wie schlecht eine Wirtschaft funktioniert, wenn der staatliche Anteil zu groß wird, und dass eine Voraussetzung für mehr Wohlstand ist, den Staat wieder in seine Schranken zu verweisen.
Der »reine Kapitalismus« existiert in keinem der Länder, die in diesem Buch dargestellt werden. Entscheidend ist das Mischungsverhältnis, also die Frage, wie stark die Rolle des Staates ist und wie viel Freiheit dem Unternehmer eingeräumt wird. Die These des Buches: Wird der Kapitalismus- Anteil in einer Wirtschaft erhöht, so wie das etwa in den letzten Jahrzehnten in China geschah, dann führt das in der Regel zu mehr Wachstum und der Mehrheit der Menschen geht es damit besser.
Es gibt viele Bücher, die theoretisch die Überlegenheit der einen oder der anderen Wirtschaftsordnung beweisen wollen. Dieses Buch ist kein theoretisches Werk, sondern ein anschauliches Buch zur Wirtschaftsgeschichte. Der Kapitalismus ist, anders als der Sozialismus, kein von Intellektuellen erdachtes System, sondern eine Wirtschaftsordnung, die sich evolutionär entwickelt hat, so wie sich Tiere und Pflanzen in der Natur entwickelt haben und weiterentwickeln, ohne dass es dafür eines zentralen, lenkenden Planes oder einer Theorie bedürfte. Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die der Ökonom und Philosoph Friedrich August von Hayek hervorgehoben hat, lautet, der Ursprung von funktionierenden Institutionen liege »nicht in Erfindung oder Planung, sondern im Überleben der Erfolgreichen«, wobei »die Auswahl durch Nachahmung der erfolgreichen Institutionen und Bräuche« erfolge.
Der größte Irrtum, der Sozialisten jeglicher Spielart mit den führenden Männern und Frauen der Zentralbanken vereint, ist die Überzeugung, dass einige dazu berufene Meisterdenker und -lenker (regelmäßig solche, die im Staatsdienst stehen) klüger seien und besser wüssten, was für die Menschen gut sei, als die Millionen Unternehmer, Investoren und Konsumenten, deren Einzelentscheidungen in der Summe denen einer Planbehörde, einer Zentralbank oder einer anderen staatlichen Lenkungsstelle überlegen sind.
Daher ist es nur von beschränktem Erfolg, wenn versucht wird, ein solches Marktsystem »von oben« zu verordnen, obwohl es ohne Impulse von Politikern naturgemäß auch nicht geht. Am Beispiel Chinas werden wir sehen, dass der Kapitalismus seine Kraft dort gerade deshalb entfaltete, weil er »von unten« wuchs und sich durchsetzte – was freilich ohne die Duldung von »oben«, also durch Politiker wie Deng Xiaoping, nicht möglich gewesen wäre. Deng und die anderen Reformer waren so klug, sich nicht ein neues, ideales System auszudenken, sondern erstens spontanen Entwicklungen in den Weiten dieses großen Landes ihren Lauf zu lassen, statt sie zu verbieten oder zu behindern, und sich zweitens in vielen Ländern umzuschauen, um in Augenschein zu nehmen, was dort funktioniert und was nicht – und dies dann im eigenen Land auszuprobieren.
Mein Ansatz in diesem Buch ist ebenfalls, einfach zu schauen, was funktioniert hat und was nicht. Ich vergleiche Länder, die man ganz gut vergleichen kann, weil sie die gleiche oder eine in vielen Punkten ähnliche Geschichte und Kultur haben: Nord- und Südkorea, die DDR und die Bundesrepublik Deutschland, Venezuela und Chile. Dieses Buch zeigt darüber hinaus, wie der Vormarsch des Kapitalismus und der Rückzug des Sozialismus in China aus einem bettelarmen Land, in dem noch vor 60 Jahren Dutzende Millionen verhungerten, die größte Exportnation der Welt machten, in der niemand mehr hungern muss.
Linke Kapitalismus- und Globalisierungsgegner glauben, der Kapitalismus sei das Problem, das zu Hunger und Armut auf der Welt führe. Am Beispiel Afrikas wird gezeigt, dass das Gegenteil richtig ist: Der Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Mehr Kapitalismus hilft Afrika wirksamer als mehr Entwicklungshilfe. Untersuchungen belegen, dass die Armut in jenen Entwicklungsländern, die stärker marktwirtschaftlich orientiert sind, nur 2,7 Prozent beträgt, in wirtschaftlich unfreien Entwicklungsländern dagegen 41,5 Prozent.
In der Regel bedeutet mehr Staat weniger Zunahme an Wohlstand und manchmal sogar einen absoluten Rückgang des Wohlstandes für eine Gesellschaft. Mehr Kapitalismus führt zu einer schnelleren Zunahme des Wohlstandes für die meisten Menschen. Das wird unter anderem am Beispiel der kapitalistischen Länder England und USA belegt, wo in den 80er-Jahren die überzeugten Marktwirtschaftler Margaret Thatcher und Ronald Reagan den Staat aus der Wirtschaft zurückgedrängt und mehr Kapitalismus gewagt haben. Nach diesen Reformen ging es beiden Ländern wesentlich besser als davor. Manchmal ist es wichtig, einen ausufernden Wohlfahrtsstaat wieder deutlich zu stutzen, wie am Beispiel Schwedens in Kapitel 7 gezeigt wird.
All dies sind praktische Experimente aus den vergangenen 70 Jahren. Obwohl der Ausgang der Experimente immer wieder in die gleiche Richtung gewiesen hat – mehr Kapitalismus bedeutet mehr Wohlstand –, scheint die Lernfähigkeit der Menschen begrenzt. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel meinte in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.«
Vielleicht ist dieses Urteil zu streng. Aber in der Tat sind die meisten Menschen nicht in der Lage, bestimmte historische Erfahrungen zu verallgemeinern. Aus den mannigfachen Beispielen, wo mehr Kapitalismus zu mehr Wohlstand führte (neben den in diesem Buch aufgeführten gäbe es etliche weitere, so etwa das Beispiel Indiens), wollen viele Menschen nicht die naheliegenden Lehren ziehen, ebenso wenig wie aus dem Scheitern aller jemals auf der Welt probierten Varianten des Sozialismus.
Auch nach dem Zusammenbruch der meisten sozialistischen Systeme Anfang der 90er-Jahre wird regelmäßig erneut irgendwo auf der Welt versucht, die sozialistischen Ideale umzusetzen. »Dieses Mal« soll es besser gemacht werden. Zuletzt geschah das in Venezuela und wieder einmal waren viele Intellektuelle in den westlichen Ländern wie den USA oder Deutschland verzückt von dem Experiment, den »Sozialismus im 21. Jahrhundert« zu verwirklichen. Die Folgen des Experiments waren – so wie bei anderen vorangegangenen sozialistischen Großversuchen – katastrophal.
Sogar in den USA träumen heute viele junge Menschen vom »Sozialismus «, wenngleich sie damit nicht ein System wie in der Sowjetunion meinen, sondern eine verklärte und missverstandene Form des skandinavischen Sozialismus. Dabei ist auch diese Variante in den 70er- und 80er-Jahren in Schweden gründlich gescheitert, wie in diesem Buch gezeigt wird.
Sorge bereitet mir weniger, dass in den nächsten Jahren in westlichen Industrieländern im großen Stil Verstaatlichungen vorgenommen werden könnten und ein offen sozialistisches System eingeführt würde. Viel gefährlicher ist, dass in westlichen Ländern der Kapitalismus Stück für Stück zurückgedrängt wird und der planende und umverteilende Staat eine immer wichtigere Rolle spielt. Die Zentralbanken führen sich wie Planungsbehörden auf, die ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen, die Geldwertstabilität zu garantieren, sondern die Marktkräfte zu beseitigen. In Europa hat die Zentralbank den für die Marktwirtschaft entscheidend wichtigen Preismechanismus teilweise außer Kraft gesetzt, weil echte Marktzinsen praktisch abgeschafft wurden. Die maßlose Verschuldung der Staaten wurde dadurch nicht eingedämmt, sondern sogar noch erheblich verstärkt.
»Je länger die Phase der niedrigen Zinsen andauert«, warnt der Ökonom Thomas Mayer, »desto stärker werden die Preise für Vermögenswerte verzerrt und desto größer ist die Gefahr, dass der Ausstieg aus der Politik der niedrigen Zinsen einen erneuten Einbruch der Wirtschaft und eine weitere Finanzkrise zur Folge hat.« Diese Krisen, das kann man mit Sicherheit vorhersagen, werden von Politikern und Medien dann dem »Kapitalismus« zugeschrieben, obwohl sie in Wahrheit gerade aus einer Verletzung kapitalistischer Prinzipien resultieren. Wenn die Diagnose falsch ist, ist auch die Therapie falsch. Und diese Therapie heißt: Noch mehr Staat, noch weniger Markt.
Früher haben die Sozialisten die Unternehmen einfach verstaatlicht. Heute wird die Planwirtschaft nicht mehr durch Verstaatlichungen eingeführt, sondern dadurch, dass die Politik den Unternehmen immer stärker hineinredet und sie durch Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Regulierung, Subventionen, Ge- und Verbote ihrer Handlungsfreiheit beraubt. So wurde beispielsweise in Deutschland die Energiewirtschaft Stück für Stück in eine Planwirtschaft umgewandelt.
All dies ist nur möglich, weil viele Menschen einfach nicht wissen oder vergessen haben, dass die Marktwirtschaft die Basis unseres Wohlstandes ist. Viele junge Menschen kennen sozialistische Systeme, wie sie bis Ende der 80er-Jahre in der Sowjetunion und in den Ostblockstaaten herrschten, nur noch aus den Geschichtsbüchern – wenn überhaupt. Kapitalismus oder freie Marktwirtschaft sind zu Negativbegriffen geworden.
In einer bereits im April 2011 veröffentlichten Umfrage hatte das Meinungsforschungsinstitut GlobeScan in verschiedenen Ländern gefragt, ob die Menschen folgender Aussage zustimmen: »Die freie Marktwirtschaft ist das beste System für die Zukunft der Welt.« In Großbritannien stimmten nur 19 Prozent der Befragten voll und ganz zu, obwohl gerade einmal drei Jahrzehnte zuvor Margaret Thatcher durch konsequent marktwirtschaftliche Reformen das Land aus einer dramatischen wirtschaftlichen Lage zu mehr Wachstum und Wohlstand geführt hatte. Die höchste Zustimmung in Europa gab es in Deutschland, aber auch hier stimmten uneingeschränkt nur 30 Prozent der Befragten zu. In Frankreich, einem Land, dessen Probleme viel damit zu tun haben, dass die meisten Menschen wenig von Marktwirtschaft halten, äußerten nur sechs Prozent volle Zustimmung.
Die Prozentsätze fielen beruhigenderweise deutlich höher aus, wenn man jene Befragten hinzuzählt, die dieser Aussage »somewhat« (etwas) beipflichteten: Dann waren es 68 Prozent in Deutschland, 55 Prozent in Großbritannien und 52 Prozent in Spanien. In Frankreich war dagegen die Ablehnung enorm: 57 Prozent lehnten die Marktwirtschaft ab. In den Vereinigten Staaten war die Zustimmung zum Markt, die 2002 noch bei 80 Prozent gelegen hatte, inzwischen auf 59 Prozent gefallen, bei einkommensschwachen Gruppen betrug sie sogar nur noch 45 Prozent. Diese Daten führte 2013 der Ökonom Samuel Gregg in seinem Buch »Becoming Europe« an, in dem er die Amerikaner warnte, den Weg der europäischen Wohlfahrtsstaaten zu gehen.
Insbesondere junge Amerikaner haben eine starke Affinität zu antikapitalistischen Ideen. Eine im Jahr 2016 von dem Institut YouGov durchgeführte Umfrage ergab, dass 45 Prozent der Amerikaner zwischen 16 und 20 für einen Sozialisten stimmen würden und 20 Prozent sogar für einen Kommunisten. Nur 42 Prozent der jungen Amerikaner sprachen sich für eine kapitalistische Wirtschaftsordnung aus (verglichen mit 64 Prozent der Amerikaner über 65 Jahren). Erschreckend ist übrigens, dass bei der gleichen Umfrage ein Drittel der jungen Amerikaner meinte, unter George W. Bush seien mehr Menschen getötet worden als unter Josef W. Stalin. Bei einer Umfrage des Gallup-Institutes im April 2016 erklärten 52 Prozent der Amerikaner, »dass unsere Regierung den Wohlstand durch hohe Steuern für Reiche umverteilen sollte«.
Bei einer Erhebung von Infratest dimap in Deutschland im Jahr 2014 stimmten 61 Prozent der Befragten der Ansicht zu: »Unsere Demokratie ist keine echte Demokratie, da die Wirtschaft und nicht die Wähler das Sagen haben.« Immerhin 33 Prozent der Deutschen (in Ostdeutschland 41 Prozent) meinten, der Kapitalismus führe »zwangsläufig zu Armut und Hunger«, und 42 Prozent (in Ostdeutschland 59 Prozent) stimmten der Aussage zu, der »Sozialismus/Kommunismus ist eine gute Idee, die bisher nur schlecht ausgeführt wurde«.
Es scheint so, dass mit dem Abstand zum Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in der westlichen Welt manches in Vergessenheit gerät und das Bewusstsein für die Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Ordnung verloren zu gehen droht – insbesondere bei der jungen Generation, die im Geschichtsunterricht meist nur am Rande über die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in sozialistischen Ländern informiert wurde.
In diesem Buch geht es nur um ein Thema: Welches System bringt einer Mehrheit von Menschen die größte Lebensqualität? Sie wird insbesondere, aber nicht nur vom Maß des wirtschaftlichen Wohlstandes bestimmt, sondern auch vom Maß politischer Freiheit. Demokratie und Kapitalismus sind in der Geschichte häufig zusammen aufgetreten, doch es gibt auch politisch unfreie Länder mit kapitalistischer Ordnung: Südkorea war keine Demokratie, als sich der Kapitalismus dort durchsetzte, sondern ist erst später eine geworden. Gleiches gilt für Chile. Und China ist bis heute ein politisch unfreies Land, obwohl es sehr erfolgreich den kapitalistischen Weg geht. Wenn in diesem Buch Länder miteinander verglichen werden, dann nur unter dem Aspekt der Wirtschaftsordnung und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Nicht weil die politische Freiheit weniger wichtig wäre, sondern weil dies einfach eine andere Fragestellung für ein anderes Buch wäre.
Dieses Buch hat bei allen Gegensätzen eine Gemeinsamkeit mit Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert«: Piketty kritisiert an der heutigen Wirtschaftswissenschaft, sie habe eine »kindliche Vorliebe für die Mathematik und für rein theoretische und oftmals sehr ideologische Spekulationen […], was zulasten der historischen Forschung und der Kooperation mit anderen Sozialwissenschaften geht«. Er plädiert, man solle »pragmatisch vorgehen und Methoden und Ansätze anwenden, mit denen auch die Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler arbeiten «. Sein Buch sei daher »sowohl ein historisches als auch ein ökonomisches Buch«. Ich selbst habe Geschichte und Politikwissenschaft studiert und in Geschichte und Soziologie promoviert. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ich in diesem Buch historisch argumentiere.
Piketty bedauert vor allem, dass heute – so meint er jedenfalls – »Verteilungsfragen « nicht mehr im Mittelpunkt der Ökonomie und der Sozialwissenschaften stünden. Es sei »höchste Zeit, die Frage der Ungleichheit wieder in den Fokus der Wirtschaftsanalyse zu stellen« und »die Verteilungsfrage wieder in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken«. Einerseits argumentiert er, die Schere zwischen Reich und Arm sei zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiter auseinandergegangen, andererseits räumt er ein, es sei »nicht ausgemacht, dass die Vermögensungleichheiten insgesamt auf globaler Ebene wirklich zunehmen«. Die Datenbasis seines und haarsträubende methodische Fehler seiner Vorgehensweise wurden an anderer Stelle ausführlich kritisiert. Inzwischen hat er selbst unter dem Eindruck der vernichtenden Kritik zentrale Thesen zurücknehmen müssen. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, dass meine Fragestellung eine völlig andere und aus meiner Sicht für die Mehrheit der Menschen ungleich wichtigere ist als die von Piketty: Es ist gar nicht entscheidend, ob die »Vermögensungleichheit« zunimmt oder nicht, sondern ob der Lebensstandard der Menschen insgesamt durch die Entwicklung des Kapitalismus eher angehoben wird oder nicht.
Piketty beklagt, in den Jahren 1990 bis 2010 sei die Schere zwischen Arm und Reich mit Blick auf Einkommen und Vermögen auseinandergegangen. Tatsache ist jedoch, dass gerade in diesen Jahrzehnten Hunderte Millionen Menschen weltweit – dank der Ausbreitung des Kapitalismus – der bitteren Armut entronnen sind, besonders in China, aber auch in Indien und anderen Teilen der Welt.
Ist es für diese Hunderte Millionen Menschen entscheidend, dass sie nicht mehr hungern und der Armut entronnen sind oder dass sich – möglicherweise – im gleichen Zeitraum das Vermögen von Multimillionären und Milliardären noch stärker vermehrt hat als ihr Lebensstandard? Im ersten Kapitel dieses Buches werde ich zeigen: Dass in den vergangenen Jahrzehnten in China die Zahl der Millionäre und Milliardäre stark gestiegen ist und sich für Hunderte Millionen der Lebensstandard so sehr verbessert hat, sind nur zwei Seiten einer Medaille und die Folgen des gleichen Prozesses, nämlich der Entwicklung vom Sozialismus zum Kapitalismus, von der Plan- zur Marktwirtschaft.
Daran, dass die Armut weltweit durch die kapitalistische Globalisierung zurückgegangen ist, kann es keinen Zweifel geben. Kontrovers diskutiert wird, ob der steigende Wohlstand in ehemals unterentwickelten Ländern zugleich in den westlichen Industrienationen, also namentlich in Europa und den USA, bei den unteren Einkommensgruppen zu Wohlstandseinbußen geführt habe. Zunächst: Wenn dies so wäre, weil die Niedriglohnbezieher in entwickelten Ländern heute im direkten Wettbewerb mit den Arbeitern in aufstrebenden Ländern stehen, dann wären die antikapitalistischen Globalisierungskritiker im Westen vor allem Verteidiger einer privilegierten Situation der Menschen in Europa und den USA – obwohl sie sich doch eigentlich vor allem als Anwälte der Armen in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas verstehen. Die These von den »Globalisierungsverlierern« in Europa und den USA ist jedoch darüber hinaus umstritten, denn laut einer OECD-Untersuchung aus dem Jahr 2011 gab es nur zwei OECD-Länder, in denen die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung geringere Realeinkommen zu verzeichnen hatten als Mitte der 80er-Jahre, nämlich Japan und Israel.
Wenn man in den Medien immer wieder lesen kann, die Zahl der Armen in den entwickelten westlichen Industrieländern sei gestiegen, dann liegt das oft einfach daran, dass Armut in den zugrunde liegenden Studien relativ gemessen wird. Arm ist beispielsweise im offiziellen Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung, wer weniger als 60 Prozent des sogenannten Medianeinkommens verdient. Wie fragwürdig diese Definition ist, sieht man an einem Gedankenexperiment: Angenommen, bei gleichem Geldwert stiegen alle Einkommen um das Zehnfache. Untere Einkommensbezieher, die beispielsweise bisher 1.000 Euro im Monat hatten, bekämen nunmehr 10.000 Euro. Keiner müsste sich mehr sorgen. Das Leben wäre schön. Jedoch – nach der herrschenden Armutsdefinition gemäß der 60-Prozent-Formel – hätte sich nichts geändert. Immer noch gäbe es genauso viele »Arme« wie zuvor, obwohl deren Einkommen jetzt zehn Mal höher ist als zuvor.
Für Kapitalismuskritiker wie Piketty ist die Wirtschaft ein Nullsummenspiel, bei dem die einen (die Reichen) gewinnen, was die anderen (die Mittelschicht und die Armen) verlieren. Doch so funktioniert die Marktwirtschaft nicht. Kapitalismuskritiker beschäftigen sich immer mit der Frage, wie der Kuchen verteilt wird; ich beschäftige mich in diesem Buch damit, unter welchen Bedingungen der Kuchen größer oder kleiner wird.
Bitte entscheiden Sie am Beispiel eines weiteren Gedankenexperimentes, was Sie bevorzugen würden: Nehmen wir an, Sie lebten auf einer Insel, in der drei reiche Menschen je 5.000 Euro besitzen und 1.000 andere nur je 100 Euro. Das Gesamtvermögen der Inselbewohner beträgt also 115.000 Euro. Sie stünden vor folgenden Alternativen: Das Vermögen aller Inselbewohner wird durch Wirtschaftswachstum doppelt so groß und wächst auf 230.000 Euro. Bei den drei Reichen verdreifacht es sich jeweils auf 15.000 Euro, diese besitzen zusammen nunmehr 45.000 Euro. Bei den 1.000 anderen wächst es zwar auch, aber nur um 85 Prozent – jeder hat jetzt 185 Euro. Die Ungleichheit hat sich also deutlich erhöht.
Im zweiten Fall nehmen wir die 115.000 Euro und verteilen sie auf alle 1.003 Inselbewohner gleichmäßig, sodass jeder 114,65 Euro besitzt. Würden Sie es als Armer mit einem Ausgangsvermögen von 100 Euro vorziehen, in der Wachstums- oder in der Gleichheitsgesellschaft zu leben? Und was wäre, wenn durch eine Wirtschaftsreform, die zur Gleichheit führen soll, das Gesamtvermögen auf nur noch 80.000 Euro schrumpft, von denen dann jeder nur noch knapp 79,80 Euro erhält?
Natürlich kann man einwenden, das Beste sei, wenn sowohl die Wirtschaft und der allgemeine Lebensstandard wüchsen und gleichzeitig auch die Gleichheit zunähme. Tatsächlich hat der Kapitalismus genau dies sogar nach den Berechnungen von Piketty im 20. Jahrhundert geleistet. Dennoch ist das Gedankenexperiment sinnvoll, weil in der Antwort die unterschiedlichen Wertpräferenzen deutlich werden: Wem die Erhöhung der Gleichheit der Menschen untereinander bzw. der Abbau von Ungleichheit wichtiger ist als die Erhöhung des Lebensstandards für eine Mehrheit, wird sie anders beantworten als derjenige, der die Prioritäten umgekehrt setzt. Noam Chomsky, einer der führenden amerikanischen Linksintellektuellen, vertritt einen solchen Standpunkt, wenn er in seinem 2017 erschienenen Buch »Requiem für den amerikanischen Traum« schreibt, »dass es um die Gesundheit einer Gesellschaft umso schlechter bestellt ist, je mehr sie von Ungleichheit geprägt ist, egal, ob diese Gesellschaft arm oder reich ist«. Ungleichheit an sich sei bereits zerstörerisch.
Wenn Sie sich vor allem für die Gleichheit interessieren, dann haben Sie das falsche Buch gekauft. Wenn Sie sich dafür interessieren, unter welchen Bedingungen es der Mehrheit der Menschen besser geht, wenn Sie also nicht die Meinung teilen, es sei »egal, ob die Gesellschaft arm oder reich ist«, dann begleiten Sie mich auf meiner Zeitreise durch fünf Kontinente, um Antworten zu finden. Karl Marx hatte recht, dass die Produktivkräfte (also Technik, Maschinen, Organisation des Produktionsprozesses usw.) und die Produktionsverhältnisse (also das Wirtschaftssystem) zusammenhängen und sich wechselseitig bedingen. Aber es ist nicht so, dass sich die Produktivkräfte zuerst entwickeln und sich danach die Produktionsverhältnisse ändern. Vielmehr ist die Änderung der Produktionsverhältnisse die entscheidende Ursache für die Entwicklung der Produktivkräfte.
Der Kapitalismus ist der Grund für ein ungeheures Wachstum des Lebensstandards, wie es ihn vor der Entwicklung der Marktwirtschaft in der ganzen Menschheitsgeschichte nicht gegeben hat. Seit den Ursprüngen der Menschheit vor etwa 2,5 Millionen Jahren benötigte es 99,4 Prozent der Menschheitsgeschichte, bis vor etwa 15.000 Jahren ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Weltbevölkerung von 90 internationalen Dollar erreicht wurde (der internationale Dollar ist eine Recheneinheit, die auf der internationalen Kaufkraft des Jahrs 1990 basiert). Bis zum Jahr 1750 brauchte es weitere 0,59 Prozent der Menschheitsgeschichte, um das Welt-BIP pro Kopf auf 180 internationale Dollar zu verdoppeln. Und dann, in weniger als 0,01 Prozent der Menschheitsgeschichte, von 1750 bis zum Jahr 2000, wuchs das Welt-BIP pro Kopf um das 37-Fache auf 6.600 internationale Dollar. In anderen Worten: 97 Prozent des Reichtums der Menschheit wurden in den vergangenen 250 Jahren, also in 0,01 Prozent der Menschheitsgeschichte, erzeugt. Die Lebenserwartung eines Menschen hat sich in diesem kurzen Zeitraum fast verdreifacht (1820 lag sie noch bei 26 Jahren). Die Menschen sind nicht plötzlich so viel intelligenter oder fleißiger geworden in dieser Zeit, sondern in den westlichen Ländern hat sich vor etwa 200 Jahren ein Wirtschaftssystem entwickelt, das allen anderen in der Menschheitsgeschichte überlegen ist – der Kapitalismus. Dieses auf Privateigentum, Unternehmertum, freier Preisbildung und Wettbewerb beruhende System, das die ungeheure wirtschaftliche und technische Entwicklung erst ermöglicht hat, ist in der Menschheitsgeschichte also noch sehr jung. Es ist erfolgreich, aber es ist auch verletzlich.
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